Die Sonne heizt am Morgen das Zelt so auf, dass ich aufstehen muss.
Sonne? Glück gehabt. Ich öffne den Reißverschluss und schaue mir meine Umgebung an. Nebel zieht durch das stille Fjordtal. Alles liegt still. Nur der Wasserfall auf der anderen Seite rauscht vor sich hin. In der Nacht schien er näher gekommen zu sein, so laut habe ich ihn gehört. Und am Morgen ist er wieder zurück gewandert. Jetzt hört man ihn kaum noch.
Ich mache mir einen Instant-Kakao, muffele einen Müsli-Snack und belohne mich mit meinem Apfel. Sitze wieder auf der Kante des Felsens vor meinem Zelt und genieße die Morgensonne. Ab und an fährt eine Fähre vorbei. Mal von rechts, dann das Pendant von links und als sich beide direkt vor meiner Haustür begegnen, sehe ich auch die Unterschiede der beiden Schiffe, die beide Fjord1 aufgedruckt haben: Das eine Schiff hat einen gelben Mastenaufbau, das andere einen weißen und das mit den gelben Masten scheint größer zu sein.
Ich lese mein ‚Flavia de Luce‘-Buch. Eigentlich ein Kinderbuch, aber wunderschön für Erwachsene geschrieben. Oder für die, die nicht erwachsen werden wollen. Denn so fühle ich mich gerade. Nicht richtig erwachsen. Wie Tom Sawyer. Ausgebüchst von zuhause. Warum sollte ich eigentlich wieder zurück fahren. Einfach weiter und weiter. Was ist das hier nur für ein schönes Paradies.
Der Gedanke an mein Paradies war der letzte an den ich mich erinnern kann, als es anfängt zu sirren.
Es hörte sich an, wie schnelle Düsenjäger – nicht so laut, und weit weg. Und im selben Moment, als der Gedanke nach alten Kriegsfilmen, in denen pfeifend Bomben vom Himmel fallen, sich in mein Hirn schlängelt, schlägt es unmittelbar vor mir ein. Wie in einem schlechten Rambofilm, wenn die Geschützfeuer ins Wasser peitschen, schlägt es vor mir ein. Im ersten Moment denke ich wirklich, dass da jemand schießt. Bin ich unvermittelt in ein Übungsgebiet geraten. Dann wird mir klar: Steinschlag!
Und das passiert ausgerechnet mir als Kletterer!
Natürlich: Direkt hinter mir erhebt sich eine vier-, fünfhundert Meter hohe Wand senkrecht aus dem Fjord. Ich blicke nach oben und sehe gerade noch die nächsten Brocken auf mich zu kommen. Springe auf und versuche irgendwo Schutz zu finden. Die Brocken schlagen 10 Meter entfernt auf den Hang und ins Wasser. Steinspritzer fliegen bis ins Zelt.
Kein Wunder, dass ich so viele schöne Brocken um mich herum am Abend gefunden hatte. Der einzige Schutzraum ist am rechten Rand meines Felsens, ein kleiner Überhang. Wenn es wieder pfeift, dann nichts wie dorthin.
Ich packe so schnell ich kann, immer mit einem Blick nach oben. Natürlich. Die Morgensonne erhitzt den kalten Fels und löst so den Steinschlag aus.
Ich nehme mir nicht viel Zeit, um alles ordentlich zu packen. Einfach alles trocken verpackt und in die Staufächer im Kajak und dann nichts wie weg hier.
Das Ende des Paradieses.
Wehmütig blicke ich zurück zu ‚meinem‘ Felsen. Klein, winzig klein liegt er vor der riesigen Wand. Danke lieber Gott, dass die Steine nebenan herunterkamen.
Als ich mitten im Fjord bin, wird mir plötzlich klar, dass auch ‚mein‘ Fels irgendwann von oben herab gefallen sein muss. Und so sauber, wie er noch ist, war das vielleicht noch gar nicht so lange her.
Nach zwei Stunden bin ich zurück in der „Zivilisation“. Regen war angesagt – die Sonne scheint heiß vom Himmel. Wir sitzen faul in der Sonne, spielen Schach, jonglieren und kajaken noch eine Runde. Morgen geht es weiter – in die Berge. Zur Trolltunga und an die großen Fjorde.
Beim einschlafen blitzen noch einmal die Bilder in meinem Hirn auf. Knapp war es. Ganz knapp. Glück gehabt!
Daher: nie direkt am Rand im Geiranger paddeln und nicht direkt unter die Wand stellen. Da kommt zu schnell etwas von oben.
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