Inga träumt seit Wochen davon auf die Trolltunga zu gehen.
Es gibt nur wenige Bilder von Norwegen, die quasi in jedem Werbespot oder Flyer über Norwegen zu sehen sind. Das eine Bild ist vom Preikestolen am Lysefjord. Zwei Stunden Wanderung einfach über schweres Geläuf. Vielleicht ist es mittlerweile entschärft worden, vor zwanzig Jahren waren dort nur wenige, heute stehen ganze Horden auf dem Plateau.
Das andere Bild ist von der Trolltunga. Springende Menschen, als X in der Luft stehen, über der dünnen Felszunge hoch über dem Abgrund. In der Ferne ein Fjord.
Von diesem Bild also träumte Inga.
Nach Skjeggedal geht ein kleiner, sehr enger Serpentinenweg. Am Ende ein unbeleuchteter Tunnel. Für kleine Wohnmobile machbar. Am Stausee gibt es genügend Platz
Wir kommen spät Abends in Skjeggedal an. 200 Kronen Ticket am Automat gelöst und einen Platz für die Nacht gesucht. Wir liegen schon in den Betten als starker Wind vom Berg kommend bläst. Er wird in der Nacht so stark, dass ich um 2 Uhr in der Nacht das Auto hinter einer Halle im Windschatten parke. Es schwankte wie ein Schiff in der Dünung. Da fand keiner Ruhe.
Am Morgen schaue ich aus dem Fenster und es ist grau und regnerisch. Wir schlafen weiter – das wird wohl nichts.
Eine Stunde später drängt Inga dann doch. Wir packen und entschließen zumindest einmal auf das erste Plateau zu laufen und dann weiter zu sehen.
Das Infoschild an der Information zeigt uns den Weg und die Route. Mit 8 Stunden Wanderung sollte man rechnen. Elf Kilometer einfach! Insgesamt also 22 Kilometer. Ein Halbmarathon!
Wenn man in Deutschland eine solche Information liest, kommen Fußkranke in 8 Stunden durch und halbwegs gute Wanderer brauchen 6 Stunden.
Wenn man in Norwegen eine solche Zeitangabe liest, dann schaffen Wanderer in Topform die Strecke in der angegebenen Zeit, alle anderen sollten deutlich mehr Zeit einplanen. Wir kalkulieren mit 10 Stunden, wenn das Wetter hält. Aber auch 15 Stunden könnten am Ende herauskommen!
Inga und ich starten gegen neun Uhr. Eineinhalb Stunden später, wie ursprünglich geplant. Der Himmel ist wolkenverhangen, an manchen Ecken sieht es nach Regen aus.
Die ersten Meter an der alten Seilbahn entlang gehen schon steil durch den Wald, nach den ersten 100 Höhenmetern wissen, wir, dass das noch der flache Teil war. Der Weg geht extrem steil nach oben. Die Treppen der Seilbahn sind verboten. Sehen aber auch nicht gemütlicher aus.
Der Weg schlängelt sich durch den Wald und wir springen von Fels zu Fels und Matschloch zu Matschloch. 500 Höhenmeter später stehen wir auf dem ersten Plateau. Wir sind schweißgebadet, sogar die Stechmücken gehen auf Abstand. Offenbar stinken wir zu sehr. Wir hatten einige Mitwanderer überholt. Die besten waren Russen in Jogginghose und Turnschuhen und ein anderes Pärchen, sie mit Chucks.
Die allermeisten sind aber gut ausgerüstet: Ohne Bergschuhe, vernünftigen Rucksack, erste Hilfe Ausrüstung, Notfallversorgung, Zumindest eine Rettungsdecke und Wechselklamotten, sollte man die Tour erst gar nicht beginnen. Uns begleiten eine Reihe von Fjell-Wanderern mit schwerem Rucksack, Zelt und Schlafsack und Angelroute. Wo zum Henker gehen die hier Angeln?
Auf dem ersten Plateau stehen viele Hütten. Ein Skidoo sehen wir. Machen die Norweger hier ihren Fjellurlaub? Oder im Winter Wandertouren? Es gibt keinerlei Straße. Wie bringen die ihre Sachen hierher?
Und die Hütten sind nicht klein: riesige Veranden umschließen Häuser mit einem halben Dutzend Zimmern.
Der Weg bleibt leider nicht so einfach, sondern führt plötzlich wieder steil nach oben.
auf 1210 Metern haben wir das erste Etappenziel erreicht. 4 Kilometer sind geschafft, die Uhr zeigt deutlich über zwei Stunden an.
Wir rennen. Pausen gönnen wir uns nicht. Unser Wanderschritt erinnert eher an Jogging. Gut, dass wir Wanderstöcke tragen, das macht die Route deutlich einfacher. Wie oft ich die Stöcke während der nächsten Stunden gepriesen habe, weiß ich nicht.
Noch sind wir fit. Das Wetter hält einigermaßen, aber wir möchten nicht auf dem Hinweg in schlechtes Wetter geraten. Lieber jetzt rasch zum Etappenziel und dann in Ruhe zurück. Ab und an nieselt es.
Wir kommen durch Tundra, müssen wieder 150 Höhenmeter nach unten, bevor wir den nächsten Höhenzug erklimmen. Diesmal sind es 1230 Meter.
Nur um direkt im Anschluss wieder 200 Meter abzusteigen. Über Felsplatten und moosige Wege, über viele , viele Steine und durch Bäche. Nach dem zweiten Gipfel kommen wir in ein Gebiet mit kleinen Seen, die wie Diamanten funkeln. In der Ferne sehen wir einen Bergrücken, das muss der Berg mit dem hiesigen Preikestolen sein.
Bei knapp 7 Kilometern finden wir die Schutzhütte. Vier Stockbetten und eine Küche. Für Wetterwechsel und Notübernachtungen passen sicher noch weit mehr Menschen hier hinein. Am Ende des Tages haben wir etwa 40 Menschen getroffen, die vor und nach uns zur Trolltunga unterwegs waren. Hoffentlich kamen alle gesund hin und wieder heim.
Der Weg führt nun an Seen vorbei und geht wieder in die Höhe. Noch steiler, wie die letzten beiden Anstiege. 1259 zeigt der Höhenmesser. Es geht wieder 200 Meter nach unten. Diesmal wird der Fels wilder und wir kommen an einer Reihe von Bächen vorbei. An einem füllen wir die Flaschen und trinken das herrlich erfrischende Bachwasser.
Der Himmel klart zunehmend auf und zeigt immer wieder einmal ein klitzekleines Wolkenloch. Weit unter uns können wir nun den See sehen. Der Stausee wird von der Stadt Odda zur Stromerzeugung benutzt, die hiesige Schwerindustrie zeugt davon.
An einem der Flüsse macht der Weg einen harten Knick und führt sehr steil nach oben. Wie steil erkennen wir erst auf dem Rückweg. Der Weg ist trocken und wir kommen gut voran. Aber so langsam könnte der Weg zu Ende sein. Aber wir haben immer noch 3 Kilometer. Weiter geht es auf den letzten Berg und wieder sind wir bei 1200 Meter angekommen.
So langsam bekommen wir auch einen Eindruck, wo die Reise hingehen wird. Das unter uns liegende Tal bietet einen beeindruckenden Anblick. Noch dazu, wenn man weiß, dass der See schon vor über 100 Jahren für die Stromerzeugung angestaut wurde:
Die Uhr zeigt über drei Stunden an.
Bei Kilometer zehn kommen wir an einen kleinen Stausee. Von der Trolltunga ist immer noch nichts zu sehen. So langsam gehen wir widerwillig. War es die Anstrengung wert? Über dem Berg auf der anderen Seite des Sees (Es ist kein Fjord, wie man bei den bekannten Bildern vermuten könnte) stehen dunkle Wolken, aber ein blaues Loch kommt langsam in unsere Richtung.
Wir geben noch einmal Gas und verlieren mehrfach den Weg aus den Augen, als wir plötzlich vor dem letzten Schild stehen „Trolltunga“
Endlich!
Die Uhr zeigt fast exakt 4 Stunden! 11,54 Kilometer! Und wir haben 19 Minuten Pause auf der ganzen Strecke gemacht!
Wir freuen uns, schauen zu, wie die Menschen sich für ihre Bilder anstellen, helfen anderen beim fotografieren und bekommen dann auch unsere Chance. Freundliche Menschen machen von Inga und mir gemeinsam ein Hüpfbild und tatsächlich: Die Sonne kommt heraus, und wir machen noch viele weitere Bilder mit freundlichen Farben.
Es ist unfassbar. So grau, wie es den ganzen Tag aussah, haben wir tatsächlich eine helle Stunde mit Wolkenlöchern geschenkt bekommen. Kein blauer Himmel, aber für Erinnerungsfotos langt es allemal.
Wobei mich Inga schon am Morgen begeistert hatte, als wir auf dem zweiten Stück Nieselregen hatten: „Auch wenn wir nachher Regen haben,“ meinte sie, „kann ich später sagen: Ich war dort gewesen! Mehr will ich gar nicht.“ Für eine 14jährige finde ich das ziemlich Klasse!
Nun hat sie ihre Bilder bekommen und diese werden ihre Geschichte immer bestätigen:
Wir waren dort. Haben gekämpft und gelitten und sind angekommen.
Überrascht schauen wir auf die Uhr: Fast zwei Stunden sind vergangen. Gegessen und getrunken und auch einmal gesessen, aber viel öfters aufgeregt hin und her gelaufen und geschaut, was sich die anderen, Gruppen wie Einzelpersonen so einfallen ließen.
Der Himmel sieht wieder sehr bedrohlich, als wir uns auf den Heimweg machen.
Und kaum haben wir die steile Passage erreicht beginnt es heftig an zu regnen. Wir sind im nu klitschnass. Die Hosen kleben an den Beinen. Noch immer kommen Gruppen den Weg hinauf.
Wir überqueren auch den zweiten Hügel, als die Sonne plötzlich wieder lacht und uns bis zur Schutzhütte die Hosen wieder trocknet. Aber der Weg ist nass, die Felsen klitschig. Inga stürzt in einem Bachbett mit der Hüfte auf einen großen Stein. Das hätte böse ausgehen können.
Sie beißt die Zähne zusammen und wir gehen weiter. Immer noch haben wir 5-6 Km/h und holen einige Wanderer ein. Eine Frau war wohl auch gestürzt, ihre Hose sprach eine deutliche Sprache.
Jetzt nicht die Konzentration verlieren.
Wir überqueren den dritten und vierten Hügel und sehen schon das Tal unter uns. An der Maglibahn zeigt die Uhr 2:39 Minuten. Sagenhaft. Wir sind gleich zuhause!
Ich schicke Nadja eine SMS mit dem Text „Sind gleich da“. Sie macht sich immer große Sorgen, wenn wir zu Unternehmungen starten.
Es beginnt wieder zu regnen. Ausgerechnet auf den letzten Metern. Noch dazu ist der Boden aufgeweicht und matschig. Entweder wir versinken im Matsch oder rutschen auf Felsen aus. Der Weg geht nun steil abwärts. So extrem war es uns beim Aufstieg gar nicht vorgekommen. Der Weg zieht sich ins Endlose. Dachten wir, wir wären gleich da? Meine Knie schmerzen immer mehr. Inga jammert sich den Berg hinunter. Die 400 Höhenmeter gehen mit 15% nach unten! Wir unterqueren wieder die Bahn und ich sehe unten Nadja auf uns warten. Wir winken und wissen: Jetzt sind wir wirklich bald unten.
Die Trolltunga ist ein Ziel, dass sich wirklich lohnt. Eine tolle Fjell-Wanderung erwartet einen, aber man sollte einige Erfahrung in den Bergen mitbringen.
Hier ist kein „Wanderweg“ deutscher Prägung zu erwarten. Keine Holzbohlen, keine Tritthilfen. Es geht über Stock und Stein und moderne Wanderstöcke sollten Pflicht sein. Gutes, eingelaufenes Schuhwerk mit groben Sohlen. Turnschuhe sind absolut ungeeignet.
An schönen sonnigen Tagen wird es sicher leichter sein, an wechselhaften Tagen, mit denen man hier immer rechnen muss, kann es schwerer sein und deutlich länger dauern.
Eine gute Kondition sollte man auf jeden Fall mitbringen. Für zehn Stunden muss sie mindestens reichen, ansonsten wird der Abstieg zum Problem.
Auf Hinweisschildern wird darauf hingewiesen, ausreichend Wasser zu trinken. Bäche und Seen gibt es genug, um seine Flasche zu füllen, nur trinken muss man. Und die letzte Gruppe Asiaten, die in Turnschuhen an uns vorbei stapfte, hatte weder einen Rucksack, noch eine Trinkflasche dabei. Das kann hier oben ins Auge gehen. Denn es gibt kein Telefonnetz, kein Internet und Hilfe ist dementsprechend fern! In Deutschland ist Hilfe auch in den Bergen meist in wenigen Minuten zu erreichen – hier muss jemand Stunden absteigen, bis er Hilfe rufen kann.
Ein wenig Statistik: (km Daten folgen noch)
Hinweg 11.54 km
Gesamtzeit 4:08 – Ruhezeit 25 Minuten
Max. Höhe 1259 Meter
Höhenunterschiede 990 Meter – Startpunkt auf 480 Meter
Rückweg 11.17 km
Gesamtzeit: 3:29 – Ruhezeit 19 Minuten
Zeitraffer der Strecke:
Von der Trolltunga in Richtung Oslo
https://www.youtube.com/watch?v=qmLe740tiSc
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4 Antworten
Was für ein tolles Erinnerungsfoto!
VG Maria
schön beschriebener Erfahrungsbericht:-)
Und das aus berufenem Munde! Vielen Dank. Deine Seite bewundere ich seit langem. Viele Grüße
Jürgen
Danke Jürgen! Habe auch nen Update zur Trollzunge reingesetzt – da tut sich touristisch ja recht viel – wenngleich nicht alles immer positiv ist – oder anders gesagt: es wird voller…